Kapitel 1 - Fortsetzung
Valvin stand auf, schüttelte die seltsamen Gedanken aus dem Kopf und schlich barfuß über den
rauen Fußboden hinüber ins Badezimmer, um seinen Kopf unter das kalte Wasser zu halten und
wieder einen klaren Geist zu bekommen. Anschließend rubbelte er sich die zerzausten Haare
trocken, klemmte das Notebook aus seinem Schlafzimmer unter den Arm und ging die
knarzende Treppe hinab in die Küche, um sich Frühstück zu machen.
Laut federnd schoss das Weißbrot aus dem Toaster, etwas schneller und höher als sonst und
landete auf der Tastatur des Notebooks. Valvin hob die Toastscheibe, die jetzt eine knusprig
schwärzliche Färbung angenommen hatte, vom Notebook und betrachtete sie, wodurch die
Krümel ungeniert auf die Tastatur hinunter rieselten. „Mist. Irgendetwas scheint mit dem
Toaster nicht in Ordnung zu sein“ Valvin rüttelte genervt an dem Gerät, das eigentlich schon
lange reif für das Museum war. Sein Onkel Gordian hatte jedoch darauf bestanden, es nicht
gegen ein „zeitgenössisches“ Gerät zu ersetzen. Die Morgensonne, die nun durch das
Küchenfenster schien, spiegelte sich in dem glasklaren Display seines Notebooks, während sein
Blick wieder über den Newsticker der Nachrichtenseite vom „Allgäuer Kurier“ huschte, auf
dessen Internetseite er gerade surfte.
„++Bügermeister Muggenstiller wurde wiedergewählt++
++Teilchenbeschleuniger in Cern entdeckt wieder neues Teilchen++“
Valvin biss herzhaft in den Toast, so dass ihm die Himbeermarmelade, die sein Onkel selbst
eingekocht hatte, links und rechts vom Toast herunter tropfte. Diesmal glücklicherweise nicht
auf das Notebook. Valvin musste an den Termin mit dem Immobilienmakler Herrn Myrris
denken, vor dem ihm schon graute. Sein Vater hatte ihn vor wenigen Tagen telefonisch
beauftragt, den Makler mit dem Kaufinteressenten durch das Haus zu führen und ihm das
Grundstück zu zeigen. Wo Valvin wohnen sollte, wenn das Haus nun tatsächlich verkauft würde,
wusste er noch nicht. Am allerliebsten hätte er den Termin mit dem äußerst unsympathischen
Myrris platzen lassen, damit das Haus nicht verkauft würde.
„++junge Elefantendame am Morgen aus dem Zirkus Sardelli verschwunden++“ war weiterhin
auf dem Newsticker zu lesen. Valvin musste lächeln, als er sich vorstellte, wie ein Elefant die
Dorfstraße heraufkam, die Kreuzung zur Hauptstraße überquerte und den ganzen Verkehr um
den Marktplatz herum zum Erliegen brachte oder sich gar in dem Brunnen ein Bad gönnte. Für
einen Augenblick dachte Valvin an das nächtliche Erlebnis am Marktplatz, dann tauchte auf dem
Display seines Notebooks ein kleines Briefchen auf. Valvin klickte mit dem Mauszeiger darauf,
um zu sehen, wer ihm eine Nachricht geschickt hatte.
„Hi, komme etwas später! Übrigens kommt Isabella bei dir vorbei, alles Weitere nachher,
Marcel“ las er dort. Valvin zog erstaunt die Augenbrauen nach oben.
Isabella? Wer war diese Isabella? Das waren die üblichen Scherze von Marcel. Sein Freund
lernte so viele Leute kennen und konnte es nicht unterlassen, gelegentlich irgendwelchen
Frauen Valvins Telefonnummer zu geben – besonders dann, wenn er seine eigene Nummer
nicht preisgeben wollte. Zu allem Überfluss fand er das auch noch furchtbar komisch. Und wer
war denn nun diese Isabella? Vielleicht war diese Isabella ja sogar hübsch? Und dass er ein
Mädchen neuerdings zu ihm einlud, hatte eine völlig ungewohnte Qualität. Langsam wurde
Valvin neugierig.
Während er sich noch diese Isabella ausmalte, nahm Valvin plötzlich ein unterschwelliges
Rumpeln wahr. Zuerst dachte er an einen Kurzschluss in dem verflixten Toaster, oder an ein
entferntes Gewitter. Den Gedanken an den aus dem Zirkus entlaufenen Elefanten versuchte er
sofort wieder zu verdrängen. Das war unmöglich! Der seit einiger Zeit gastierende Zirkus Sardelli
war eine halbe Stunde zu Fuß von hier entfernt. Andererseits, vielleicht hatte das Tier die
Abkürzung durch den Park genommen? Dann erneut, ein dumpfes, durchdringendes Rumpeln
und Knacken, wie, wenn etwas zu Bruch ginge. Valvin lief zum Fenster, oder besser gesagt, er
drehte sich quasi auf dem Küchenstuhl herum, um zu sehen, was dort draußen vor sich ging,
denn die Wohnküche war nicht besonders groß und hatte nur ein einziges, kleines Fenster zur
Straße hin, sowie eine Türe mit Fenster, die nach hinten in den Garten hinausführte. Als Valvin
nach draußen Richtung Straße blickte, riss er unwillkürlich die Augen auf. Vor dem Gartenzaun
des kleinen Häuschens stand tatsächlich ein Elefant und zwar in ziemlich junger, was an der
Tollpatschigkeit seiner Bewegungen und an seiner relativ geringen Größe für einen Elefanten
eindeutig zu erkennen war. Das Riesenbaby spielte gerade mit dem Gartenzaun, als seien es
Zahnstocher. Seine Vorderfüße und den Rüssel benutzte er dazu, die Latten des teilweise
morschen Jägerzauns einzudrücken und sich Zugang zum Garten zu verschaffen. Valvin wurde es
mulmig und flau zumute. Dies war wirklich die Elefantendame, die heute Morgen aus dem
Zirkus Sardelli entflohen war! Irgendetwas war jedoch seltsam. Ihre Haut war relativ glatt und
schimmerte im sanften Licht der morgendlichen Sonne in lilafarbenen Schattierungen, was ihr
ein durchaus elfenhaftes Aussehen verlieh. Wer um alles in der Welt hatte die Elefantendame
derart angemalt? Und wie viele Eimer Farbe man dafür wohl benötigte? Die Leute vom Zirkus
Sardelli sind völlig verrückt, dachte Valvin.
Ungestüm schubste sie den mittlerweile arg ramponierten Gartenzaun mit dem Rüssel ein
wenig zur Seite, zwängte ihren Hintern durch die entstandene Lücke und drehte sich einmal um
die eigene Achse, wie in einem Ballett. Statt zu schweben wie eine Ballerina, landete ihr fast
tonnenschwerer Körper allerdings bäuchlings und mit dem Rüssel voraus im Blumenbeet vor
dem Haus.
Valvin sprang vom Frühstückstisch auf und öffnete die Haustüre, erst vorsichtig einen Spalt
breit, dann ganz. Die Elefantendame horchte auf. Sie wälzte sich am Boden und stand auf,
pendelte ein wenig mit den Vorderfüßen hin und her, so dass ihr dicker und viel zu langer Rüssel
von links nach rechts und wieder zurück schwang wie das Pendel einer Uhr, ehe sie sich in
Bewegung setzte und auf Valvin zu trottete, was sehr komisch und niedlich gewirkte hätte,
wenn sie nicht so groß gewesen wäre.
Er stand, so wie er aus dem Bett kam, im Schlafanzug und mit wirren Haaren vor der Haustüre,
konnte vor Erstaunen den Mund nicht mehr schließen und dachte in dem Moment, dass es ein
Fehler gewesen sein könnte, die Tür zu öffnen. Und in der Sekunde fiel die Tür hinter ihm ins
Schloss.
„Verdammt!“
Schoss es Valvin durch den Kopf! Gerade als Valvin am Türknopf rütteln wollte, trafen sich seine
Blicke mit denen der Elefantendame. Ihr Blick aus gelbgrünen Augen wirkte außerordentlich
intelligent und dennoch verwirrt.
Plötzlich nahm Valvin eine leise Stimme zwischen seinen Ohren wahr. „Ist Konfusius zuhause?“
Valvin blickte sich um ohne die Elefantendame aus den Augen zu verlieren. In der Siedlung war
es heute am Samstagmorgen noch ganz still, er konnte nirgends einen der Nachbarn entdecken,
die ohnehin meist unsichtbar waren und auch auf der Straße waren keine Leute unterwegs.
„Hast Du Konfusius gesehen? Es ist wirklich dringend?“ hallte es erneut in seinem Kopf wider.
„Welcher komische Konfusius?“ dachte Valvin und überlegte gerade, in welche Richtung er
denn nun vor dem lilafarbenen Monster flüchten sollte. Valvin stand mit dem Rücken zur Tür
und das Schwergewicht kam ihm bereits bedrohlich nahe. Sie wog wohl mindestens fünfhundert
Kilogramm und bremste ihren wuchtigen Körper kurz vor Valvin ab. „Er muss doch da sein, ich
war doch schon öfter hier!“
Für einen Augenblick zögerte Valvin. Dann dämmerte ihm ein leiser Verdacht. War es möglich
dass er die Gedanken des jungen Elefanten hören konnte?
„Was willst du denn von Konfusius?“ dachte Valvin, um zu testen ob seine Vermutung richtig
sein konnte.
„Na, nur er kann wissen was jetzt zu tun ist!“ schallte es postwendend in seinem Gehirn. Die
Elefantendame stand nun fast direkt vor ihm, ruderte mit dem Rüssel und blickte ihn fragend
und ein wenig hilflos aus ihren treuen Augen an. Dann schüttelte sie plötzlich ihre riesigen
Ohren, so als ob sie damit losfliegen wollte und stürmte an ihm vorbei. Valvin konnte sich
gerade noch zur Seite retten. Es gab einen lauten Knall als das Türschloss aufbrach. Die Tür
bekam eine Delle und flog nach innen auf. Als der Elefant sich durch die Türöffnung quetschte,
schien er förmlich zu schrumpfen und drinnen wieder größer zu werden.
„Ich bin immer noch in einem Albtraum?“ dachte Valvin und sah dem Elefanten hinterher, wie
er drinnen auf ungestüme Art mit dem Rüssel die Kellertüre öffnete, die unmittelbar neben der
Haustüre hinab führte. Die Kellertreppe und das Holzgeländer ächzten, als der Dickhäuter sich in
den Vorratskeller hinunter zwängte, in dem sein Onkel das viele eingemachte Obst lagerte. Das
wird nicht gutgehen, dachte Valvin. Er sah noch wie das dicke Hinterteil der Elefantenkuh
langsam in der Dunkelheit des Kellers verschwand.
„Konfusius, bist du hier?“ war noch zu vernehmen und irgendwie schaffte sie es sogar, mit dem
Rüssel die Kellertür hinter sich zu verschließen. Dann war es still.
Das durfte nicht wahr sein. Die Haustüre war zerstört und zu allem Überfluss befand sich der
Elefant aus dem Zirkus nun bei ihm im Keller! Auch wenn sie für einen Elefanten sehr „niedlich“
war.
Valvin betrat das Haus wieder und sah sich in der Küche um. Zu seinem Erstaunen war hier noch
alles an seinem Platz, nur seine Kaffeetasse war umgeworfen und der Kaffee lief langsam aber
fortwährend in die Lüftungsschlitze seines neuen Notebooks.
Valvins erster Gedanke war, auf seinem Smartphone nach den Kontaktdaten des Zirkus Sardelli
zu suchen, damit die ihr Haustier schnellstmöglich wieder abholen konnten.
Neugierig geworden drückte er jedoch erst einmal vorsichtig die Klinke der Kellertür, horchte
hinab und schlich dann so leise und vorsichtig es ihm nur möglich war, einige Stufen abwärts,
um zu sehen, was der Elefant bereits angerichtet hatte. Hier unten war Valvin selten gewesen.
Außer, dass er sich einmal eingelegte Birnen geholt hatte, die er hier im Keller fand und die
vorzüglich schmeckten, auf einer Gorgonzola-Birnen-Pizza mit roten Zwiebeln. Der Vorratskeller
bestand aus einem einzigen hohen Raum, der vom Boden bis zur Decke mit hölzernen Regalen
zugestellt war, in denen sich Hunderte von teils gefüllten, teils leeren Einmachgläsern in allen
Größen stapelten. Die meisten jedoch waren randvoll mit leckeren eingelegten Birnen, Kirschen,
Aprikosen, Pflaumen und allerlei Marmeladen, von Früchten aus dem großen Obstgarten hinter
dem Haus.
Valvin vernahm jemanden aufgeregt sprechen und plötzlich mehrere Stimmen die beunruhigt
durcheinanderredeten. Er stockte auf halbem Weg und horchte. Wer war dort unten im Keller?
Zumindest war es nicht die Stimme seine Onkels, so viel war sicher.
Valvin wartete einen Augenblick bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, ehe er
den Weg fortsetzte und sich vorsichtig weiter tastete. Zu seiner Überraschung konnte er nun
von der Treppe aus erkennen, dass sich dort im fahlen Lichtschein weniger Kerzen mehrere
merkwürdig aussehende Gestalten um einen Tisch versammelt hatte. Mitten unter ihnen hatte
die Elefantendame am Boden Platz genommen, den wuchtigen Hintern eingezwängt zwischen
zwei Regalen mit Einmachgläsern.
Es war eine gespenstische Szene, die Valvin dort erblickte. Bei den Anwesenden handelte es sich
keinesfalls um Menschen, sondern eher um Kobolde oder Trolle, soviel konnte er im Halbdunkel
sehen. Vielleicht waren manche von ihnen sogar Dämonen? Einer von ihnen hatte einen
kegelförmigen Hut auf und erinnerte Valvin aufgrund seiner schlitzförmigen Augen entfernt an
einen chinesischen Reisbauern. Ein anderer, dessen Gesicht Valvin in der Dunkelheit nicht
erkennen konnte, lief geschäftig umher und brachte ein dickes Buch an den Tisch. Als er das
schwere Werk auf den Tisch ablegte, wirbelte Staub auf, der den Einband offensichtlich
millimeterdick bedeckt hatte. Valvin fiel auf, dass die Kreaturen völlig unterschiedlich gekleidet
waren. Während der chinesische Mann einen Umhang trug, der wie Seide glänzte, trugen die
kleineren Gestalten schäbige und abgetragene Hosen und Jacken aus braunem oder grünem,
speckigem Leder. Zwei von ihnen, vermutlich ebenfalls Kobolde, hatten Kappen aus Leder auf
ihren Köpfen. Sie unterhielten sich angeregt, wovon Valvin allerdings nur wenige Wortfetzen
verstand. Valvin lauschte angestrengt, teilweise war es eine Sprache, wie er sie noch nie gehört
hatte. Nur manchmal verstand er einzelne Wortfetzen, er reimte sich etwas zusammen, das wie
„Feuerring“ klang und „fliegende Satane“. Mit jeder Minute wurde die Diskussion heftiger. Einer
der grobschlächtigen Gestalten, die Valvin für einen Troll hielt, erhob sich von seinem schäbigen
Stuhl und schlug heftig mit der narbigen Hand auf den Tisch. Valvin erschrak ein wenig, er
verlagerte sein Gewicht auf den vorderen Fuß, um einen besseren Blick auf das zu haben was
hier vor sich ging, wodurch die Treppe ein leises Quietschen von sich gab. Und plötzlich blickte
eine der Kreaturen genau in seine Richtung. Der Troll zeigte mit dem Finger auf Valvin und tat
einen lauten Ausruf, worauf sich die anderen Gestalten von ihren Sitzgelegenheiten erhoben
und hastig zwischen den Regalen verschwanden. Die Elefantendame blickte nun hinter einem
Regal hervor, hinter dem sie sich so schnell es eben ging versteckt hatte und sah durch die
Einmachgläser hindurch, wobei ihr Rüssel durch die vergrößernde Wirkung der Gläser, die nur
zum Teil mit riesengroßen Birnen gefüllt waren, noch viel gigantischer wirkte als er ohnehin
schon war. Ihr lilafarbener Leib schimmerte, ja leuchtete förmlich durch die leeren Gläser
hindurch. Trotzdem hatte sie wohl selbst den Eindruck, nicht gesehen zu werden im fahlen Licht
der flackernden Kerzen. Mit einem Schlag wurden die Kerzen nun von einem der Trolle
ausgelöscht, indem er sie mit der bloßen Hand hinwegfegte. Stimmengewirr war zu hören und
Einmachgläser schepperten in der Dunkelheit, die jetzt herrschte. Nur ein sehr schwacher,
bläulicher Lichtschein drang von irgendwoher zwischen den Regalen an seine Netzhaut.
Rauchiger Duft von gelöschten Wachskerzen vermischte sich mit dem modrigen Geruch hier
unten, den Valvin erst jetzt bemerkte. Er wandte sich um, tastete nach dem Treppengeländer
und stolperte so schnell er konnte im Dunklen die Treppe hinauf, zurück in die Helligkeit des
Tages. Er stieß die Türe zum Keller weit auf und blieb mit klopfendem Herzen in der Wohnküche
stehen. Doch die Neugier hatte ihn bereits gepackt. Was waren das für Kreaturen in Onkel
Gordians Keller?
Valvin tastete nach dem Lichtschalter, der am oberen Ende der Treppe angebracht war und
knipste das Licht an. Die kleine Glühdraht-Funzel, die dort unten im Keller zwischen den Regalen
von der Decke baumelte, tauchte den Raum nun in ein schummeriges, gelbes Licht. Zehn Watt,
schätzte Valvin. Das war typisch für Onkel Gordian, dessen Sparfimmel bisweilen seltsame
Blüten trieb. Kein Laut drang mehr herauf, alles war jetzt absolut still. Er tastete sich wieder
Stufe für Stufe abwärts, bis er von der Treppe aus den Tisch sehen konnte, an dem die illustre
Gesellschaft Platz genommen hatte. Am Boden lagen einige zerbrochene Einmachgläser herum,
zwei Stühle waren umgeworfen worden und die verloschenen Kerzen lagen verstreut auf dem
Fußboden, das rote Wachs der Kerzen in vielen kleinen, runden Klecksen am Boden erkaltet.
Beinahe sah es aus wie Blut.
In einer dunklen Ecke unter der Treppe erstreckte sich ein schwarzes Bücherregal von einer
Wand zu anderen, das ihm bislang noch nie aufgefallen war. Valvin war außerdem ein wenig
erstaunt, wie weit die Reihen der Holzgestelle mit dem eingemachten Obst in den Raum
hineinreichten. So groß hatte er den Keller gar nicht in Erinnerung. Vorsichtig verließ er die
Treppe und blickte zaghaft zwischen die ersten Regalreihen. Von den Kreaturen war nichts mehr
zu sehen. Sie mussten einfach verschwunden sein. Möglicherweise durch einen Geheimgang,
denn dies war der einzige Kellerraum, den das Häuschen besaß.
Das schwere Buch mit dem braunen Ledereinband und der dicken Staubschicht, das der Kobold
an den Tisch gebracht hatte, lag noch aufgeschlagen dort. Valvin nahm es vorsichtig in die Hand
und betrachtete den Einband.
„Proficisci“ stand dort in schwarzen, erhabenen Lettern. Er konnte sich noch dunkel an den
Lateinunterricht erinnern, die Inschrift musste etwas mit „Reisen“ zu tun haben. Valvin hustete,
als sich eine Staubwolke vom Einband löste und ihm in die Nase stieg. Er stellte einen der
umgeworfenen Stühle auf und nahm darauf Platz, legte das Buch auf dem Tisch ab und
betrachtete die von den Kobolden aufgeschlagenen Seiten.
Die Buchseiten waren allesamt braun, vergilbt, und an den Rändern ausgefranst, was auf ein
Alter von mehreren hundert Jahren hindeuten konnte. Auf der aufgeschlagenen Seite war eine
Landkarte aufgezeichnet, am rechten oberen Eck ein auffällig großer Kreis, daneben das Wort
Malcoon, neben einigen schön gezeichneten, spitzigen Häusern.
„Malcoon?“ Valvin stutzte. Die Linien und Schriftzeichen sahen aus, als ob sie vor unendlich
vielen Jahren mit Tinte und einem alten Federkiel gemalt worden wären. An den Seitenrändern
hatte offensichtlich jemand sehr viel später mit Bleistift einige Notizen hin gekritzelt. Valvin
konnte weder die mit Tinte gemalten Zeichen, noch die Bleistiftnotizen entziffern. Die Schrift
der Notizen erinnerte ihn jedoch sehr an die unleserliche und winzige Handschrift seines Onkels
Gordian. Nur dieses eine Wort auf der Landkarte ging ihm nicht mehr aus dem Bewusstsein.
„Malcoon“.
Valvin blätterte ein wenig durch das Buch, auf einigen Seiten waren Ballone aufgemalt,
darunter Landkarten mit Namen von Orten, die er noch niemals gehört hatte. Je weiter er nach
hinten durch das Buch blätterte, desto spärlicher wurden auch die Bleistiftnotizen.
Valvin stand auf und ging zu dem dunklen Bücherregal unter der Treppe. Es war bis unter die
Decke gefüllt mit alten Büchern in dunklen, ledernen Einbänden. Valvin griff wahllos hinein und
nahm eines der Bücher heraus, dass ihn geheimnisvoll anzog. Als er es an sich nahm, bemerkte
er, dass es relativ groß und schwer war, der Einband war völlig schwarz und besaß einen
teilweise verrosteten, metallenen Verschluss.
Als das Licht der Glühbirne in einem bestimmten Winkel auf den schwarz glänzenden und
ziemlich abgegriffenen Ledereinband traf, war dort für einen kurzen Augenblick „exitiosus
obscurus magia“ zu lesen. Valvin drehte den Einband hin und her, konnte die Schrift jedoch
nicht mehr finden.
„unheilvolle, finstere Magie“ Valvin schluckte.
Er öffnete vorsichtig die Schließe und blätterte darin, andächtig, beinahe ehrfürchtig, wobei ihm
ein kalter Schauer über den Rücken lief. Immer wieder blickte er sich um, ob vielleicht eine von
den Kreaturen zurück käme, aber es blieb völlig still hier unten.
Valvin entnahm ein weiteres Buch. Das Leder war weich, „amor magia“ prangte hier in teils
abgewetztem Blattgold auf dem Einband. Valvin hob interessiert die Augenbrauen und
übersetzte. „Liebeszauber“? Auf den ersten Seiten waren viele detailgenaue Zeichnungen von
Kräutern und Blüten abgebildet, manche von ihnen kamen Valvin bekannt vor, er erkannte
Liebstöckel oder auch Lavendel. Weitere Seiten zeigten offenbar Anleitungen zum Brauen von
Tränken, Braukessel waren dort abgebildet, oder Reihenfolgen der Zugabe von Kräutern und
sonstigen Zutaten. Auch einige Karten, die wohl Fundorte von seltenen Kräutern anzeigten,
entdeckte er. „Kloster von Shaicoon“ las Valvin. „Interessant…“ grübelte er und malte sich
gerade aus, wie er damit mehr Erfolg haben könnte. Ein selbst gebrautes Liebeselixier, mit dem
er jedes Mädchen verzaubern könnte? Spontan dachte Valvin wieder an das Mädel im rosa
Dirndl.
Valvin setzte sich mit den Büchern an den Tisch und vergaß völlig die Zeit. Es mochte eine
Stunde oder mehr vergangen sein, als ihm blitzartig dieser eine Gedanke durch den Kopf schoss:
„Das Haus darf keinesfalls verkauft und abgerissen werden!“
Jedenfalls nicht bevor er herausgefunden hatte, was hier geschah, sonst war dies alles verloren.
Er musste unbedingt vereiteln, dass der Kaufinteressent sich das Grundstück ansehen konnte.
Und dazu war es nötig, dass er den Makler Herrn Myrris anrief, um den heutigen Termin
abzusagen.
Plötzlich drang ein Klingeln in seinen Verstand vor, erst leise, dann immer aufdringlicher. Er
horchte auf. Das Klingeln kam von oben. Offensichtlich bekam er Besuch. Valvin stellte beide
Bücher in das Regal zurück, nicht ohne sich genau zu merken, wo er sie wiederfinden konnte,
ging die Treppe hinauf und öffnete die Haustüre, die immer noch einen Spalt breit offenstand.
Sieben überdimensional große Kartons mit der grün -orangen Aufschrift „Fantastic-Pizza“
wurden ihm plötzlich vor das Gesicht gehalten, dahinter stand eine kleine, zierliche Frau, von
der man kaum annehmen konnte, dass sie in der Lage wäre, auch nur einen einzigen dieser
Jumbo Pizza-Kartons zu stemmen. Und obenauf lag eine Rechnung mit einem nicht
unbeträchtlichen Betrag.
„Vier Funghi Jumbo und drei Jalapeño Jumbo Extra scharf!“ rief die Frau mit dunkler Stimme.
„Sieben Pizzas? Ähm… tut mir leid, ich hatte keine Pizza bestellt!“ antwortete er irritiert.
Dann dämmerte es Valvin langsam. Es waren etwa sieben Gestalten im Keller gewesen. Hatten
die Trolle und Kobolde sich die Pizzen liefern lassen? In der Hoffnung, sie hier in Ruhe essen zu
können?
„Ach ja richtig, doch, warten Sie, es könnte sein dass wir sie doch bestellt haben, einen Moment
bitte.“
Valvin kramte in seiner Geldbörse und dann sah er das ganze Ausmaß des Dilemmas. Wenn er
diese sieben Jumbo -Pizzen bezahlen würde, dann hatte er bis auf wenige Euro kein Geld mehr.
Valvin seufzte. Während er noch versuchte, den Betrag zusammen zu bekommen, bemerkte er,
dass die Pizza-Frau ständig versuchte, an ihm vorbei einen Blick in das Haus zu erhaschen.
Valvin zögerte, bezahlte aber dann die Lieferung und gab ihr sogar noch ein wenig Trinkgeld.
Beim Übergeben der Kartons sah sie ihn plötzlich eindringlich mit ihren dunkelbraunen Augen
an.
„Ich soll ausrichten, sie sind bereits zum Dorf Malcoon unterwegs!“
Valvin zog die Augenbrauen nach oben und legte die Stirn in Falten.
„Wer und wohin?“ Ein wenig verrückt die Frau, dachte er bei sich und nahm die Kartons
entgegen. Bevor er noch nachfragen konnte, war sie auch schon auf und davon, lief behänd
über die roten Natursteinplatten, die sein Onkel als Zugang zum Haus verlegt hatte, vorbei an
dem demolierten Zaun und hinaus auf die Straße zu ihrem Auto, das sie offenbar ziemlich weit
weg geparkt haben musste. Jedenfalls konnte er nirgends eines der kleinen, grün-orangen
Fantastic-Pizza-Autos entdecken.
Als er die Haustüre mit dem Fuß schließen wollte, sah er gerade noch, wie draußen ein Auto mit
dem Schriftzug „Zirkus Sardelli“ vorbei fuhr. Ganz offensichtlich suchten die Leute vom Zirkus
ihren Elefanten, allerdings war dieser nun auch aus seinem Keller spurlos verschwunden. Kein
Wunder also, dass er den Zirkusleuten entkommen war. Er stutze einen Moment, während die
Tür ins Schloss fiel, jedoch sofort wieder aufsprang. Der Elefant hatte beim Eintreten ganze
Arbeit geleistet und das Türschloss so beschädigt, dass man sie nicht mehr verschließen konnte.
Als Valvin die italienischen Teigspezialitäten auf dem Küchentisch ablegte, begann sich sein
Magen mit einem lauten Knurren zu melden. Und dabei war es gerade mal zehn Uhr am
Vormittag. Aber die Pizzen dufteten viel zu köstlich und verführerisch, als dass man sie hier
einfach so herumliegen lassen durfte. Valvin griff sich den obersten Karton mit der, mit dickem
Filzstift aufgebrachten Aufschrift „Funghi“ und ging damit zum Telefon.
Beim Immobilienbüro Myrris meldete sich wieder einmal niemand. Nachdem Valvin es etwa
eine Minute lang läuten ließ, hörte er schließlich den Anrufbeantworter mit der
unsympathischen Stimme des Herrn Myrris.
„Sie sind verbunden mit dem Immobilienbüro Myrris, im Moment ist unser Büro leider nicht
besetzt, Sie können uns gerne eine Nachricht…“ Valvin wartete genervt auf das Ende der Ansage
und sprach dann auf den Anrufbeantworter, dass er verhindert sei, den Besichtigungstermin
wahrzunehmen. Gerade als er auflegte, knarrte die beschädigte Tür in den Angeln.
„Wow… jede Menge Pizzen! Woher wusstest Du, dass ich mächtig Hunger habe?“
Valvin wandte sich um. Sein Freund Marcel stand schon mitten in der Küche, grinste frech und
schlug ihm mit der flachen Hand anerkennend auf die Schulter. „Hi Valvin! Die Tür stand offen…
ist Isabella schon hier?“
Am witzig- ironischen Unterton in Marcel´s Stimme und seinem breiten Grinsen war eindeutig
zu erkennen, dass auch er nicht wirklich daran glaubte, dass irgend ein Mädchen namens
„Isabella“ heute Morgen schon bei Valvin aufgetaucht wäre.
„Nimm Dir ruhig eine, es ist genügend da.“ schmunzelte Valvin und deutet auf die restlichen
sechs Pizzaschachteln.
„Danke. Für wen sind die alle?“
„Wir haben Kobolde und einen lilafarbenen Elefanten im Keller und die haben sich wieder mal
zu viele Pizzen bestellt.“
Marcel zog ungläubig die Stirn in Falten und seine kurzen Haare schienen sich aufzustellen.
„Hä…?“
Das Erstaunen in Marcel´s Gesicht amüsierte Valvin.
„Von welcher Isabella sprichst Du eigentlich ständig?“ wollte Valvin jetzt nun doch ganz genau
wissen. Marcel nahm sich einen Karton, klappte den Deckel auf, zerrte sich eine Ecke der
vorgeschnittenen Pizza ab und biss gierig hinein.
„Hatte gestern zufällig gesehen, wie du bei dem Mädchen mit dem rosa Dirndl abgeblitzt bist…“
begann Marcel und riss mitten im Satz die Augen auf, „Haaaahh… was ist das?“ schluckte er.
„Jalapeño extra scharf?“ hechelte Marcel, als er die Aufschrift an der Schachtel näher
betrachtete.
„Sind die von Fantastic-Pizza verrückt?“ Valvin konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen und hielt
ihm einen Karton mit einer normalen Funghi unter die Nase.
„Ja, und?“ forderte er Marcel auf, weiter zu erzählen.
„Du hast mal wieder einen typischen Anfängerfehler gemacht.“ Marcel schob ein „scharfloses“
Pizza-Eck hinterher, um die Geschmacks-Rezeptoren in seinem Rachen zu beruhigen.
„Die im rosa Dirndl heißt Isabella und ist echt unglaublich nett, wenn auch ein wenig hochnäsig,
aber damit muss man halt umgehen können.“ plauderte er aus dem Nähkästchen, während er
auf dem Teig Rand herum knusperte, was offensichtlich die Schärfe ganz gut zu neutralisieren
schien. Valvin wurde indes immer neugieriger, was Marcel ihm nun eigentlich mitteilen wollte.
„Habe mich kurz mit ihr unterhalten, na jedenfalls kamen wir drauf, dass sie ganz in der Nähe
wohnt, zwei Straßen weiter und deshalb habe ich ihr deine Adresse gegeben und sie für heut
Morgen eingeladen.“ Marcel zwinkerte mit einem Auge, wobei sich Valvin nicht
hundertprozentig sicher war, ob Marcel ihm damit etwas andeuten wollte, oder ob es an dem
relativ hohen Scoville -Wert der Jalapeños lag, die sein Nervenkostüm angegriffen hatten.
„Sie hat jedenfalls versprochen, dass sie heute Vormittag mal hier vorbei schaut und uns beide
besucht, bevor sie mit einer ihrer Freundinnen zum Shoppen geht.“
Valvins Kinnlade klappte herunter, wobei das Knacken seines Kiefers zu hören war. Das
Mädchen vom Dorffest, das er so toll fand, hieß Isabella und würde möglicherweise jetzt hier
vorbeikommen? Valvin fühlte Nervosität in sich aufsteigen.
Marcel beschäftigte sich derweilen wieder mit der Pizza. „Sie fand dich übrigens ganz putzig.“
schmatzte er.
„Putzig?“ wiederholte Valvin.
„Ja, putzig, das waren ihre Worte. Aber das bezog sich vermutlich auf deine zirkusreife Aktion
auf dem Stuhl.“
„Hat sie dir das erzählt?“
„Ja, das war mal eine völlig neue Anmache. Ich glaube, sie fand dich wirklich ganz nett.“
mutmaßte Marcel.
Nett und putzig waren nun wahrlich nicht die Synonyme, die Valvin für sich in Anspruch nehmen
wollte, darum wechselte er schnell das Thema.
„Ehrlich, wir haben tatsächlich Kobolde im Keller.“
berichtete Valvin ernst und beobachtete Marcels Reaktion, ehe er fortfuhr. Marcel wusste wohl
nicht so recht, was er mit dieser Information anfangen sollte, seine Stirn kräuselte sich und sein
Blick wanderte suchend im Raum hin und her.
„Kobolde?“
„Naja, oder Trolle, jedenfalls merkwürdige Gestalten.“
„Sehr witzig!“ keuchte Marcel und hustete, als ober er sich an einem Krümel verschluckt hätte
„fast hätte ich dir geglaubt, sehr überzeugend!“ gurgelte er.
Valvins Mine wurde sachlich. „Komm mit in den Keller, ich zeig dir etwas!“
„Jetzt echt?“ fragte Marcel nun doch etwas verwirrt, da er wusste, dass Valvin ihn selten
anflunkerte.
Valvin ging voraus, die Treppe hinunter in den Keller und Marcel folgte ihm, nicht ohne sich
vorher die Schachtel mit Pizza Funghi unter den Arm zu klemmen.
Am Fuß der Treppe angelangt, wies Valvin mit einer Kopfbewegung auf den Tisch. „Hier sind sie
gesessen und haben in dem Buch gelesen. Als sie mich bemerkten, löschten sie schnell die
Kerzen und sind verschwunden!“ Valvin deutete auf die Kerzenstumpen die auf dem Boden
verstreut lagen.
„Etwas muffig hier.“ Marcel hielt sich mit zwei Fingern die Nase zu. Er betrachtete die
aufgeschlagenen Bücher, ging dann um den Tisch herum und blickte erstaunt auf die langen
Regale mit den eingelegten Früchten.
„Und du bist dir ganz sicher dass du hier unten Kobolde gesehen hast, zwischen den Gurken und
Kürbissen?“
Marcel grinste spöttisch.
„Ich meine, bei dem Geruch hier, sind Halluzinationen durchaus denkbar.“
Valvin lehnte sich resigniert gegen das schwarze Bücherregal. „Ist schon klar, ich würde es an
deiner Stelle ja auch nicht glauben.“
„Du solltest nicht so viel von diesem eingelegten Zeug essen Valvin, bestimmt ist das
Verfallsdatum überschritten.“ witzelte Marcel fürsorglich. „Vielleicht hast du ein paar Katzen
gesehen, die anschließend durch ein Kellerfenster getürmt sind?“ versuchte Marcel nun eine
glaubwürdige Erklärung zu finden und wanderte zwischen den Regalen mit den Einmachgläsern
umher.
„Nein, ganz sicher nicht, Katzen hätte ich schon erkannt – außerdem gibt es hier überhaupt kein
Kellerfenster.“ konstatierte Valvin und rollte mit den Augen.
„Mirabellen!“ schallte es lang gezogen irgendwo von weit drinnen im Raum. „Die hat meine
Oma auch immer eingelegt!“
„Du kannst dir gerne ein Glas mitnehmen, Marcel.“
Valvin wandte sich um und nahm noch ein paar der alten Bücher heraus, die dort dicht an dicht
gedrängt in der kleinen Bibliothek standen. Es stank tatsächlich nach altem Papier und eines der
Bücher zerfiel ihm förmlich zwischen den Händen, als er es öffnete.
„Und was hat diese Isabella gestern sonst noch so gesagt?“ bohrte Valvin nach, da es ihn nun
doch brennend interessierte.
„Sie hat erzählt, dass sie noch nicht lange mit ihren Eltern hier wohnt und dass sie es schade
fand, dass du so schnell verschwunden bist.“
„Ach tatsächlich? Ich dachte, ich glänze nach meiner artistischen Darbietung lieber durch
Abwesenheit“ sinnierte Valvin.